RECONQUISTA

  • Genetik Teil 5: Das egoistische Chromosom

    Richard Dawkins

     

    „Nicht ist die Mutter ihres Kindes Zeugerin Sie hegt und trägt das auferweckte Leben nur. Es zeugt der Vater, aber sie bewahrt das Pfand.“

    (Aischylos)

    1976 erschien ein für die Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts wegweisendes Buch: „Das egoistische Gen“ (The selfish Gene) von Richard Dawkins. Obwohl Dawkins nie zu den führenden Forschern seiner Zunft gehörte – von 1995 bis 2008 war er Professor eines Instituts, das wissenschaftliche Erkenntnisse einem breiten Publikum verständlich machen will – bezeichnet ihn das Magazin „Der Spiegel“ als einflußreichsten Biologen seiner Zeit.

    Dawkins‘ besondere Leistung war es, Erkenntnisse des Neodarwinismus und der Soziobiologie neu zu interpretieren und damit einen erweiterten Blick auf die Geschichte des Lebens zu eröffnen. Ein zentrales Problem der Evolutionstheorie war es gewesen, den Altruismus zu erklären. Wenn der Selbstbehauptungswille des Individuums die treibende Kraft der Evolution ist, wie Charles Darwin angenommen hatte, müßten wir in einer vollkommen egoistischen Welt leben. Warum läßt sich dann überall in der Natur auch das Gegenteil beobachten, nämlich die Neigung, auf eigene Vorteile zum Vorteil anderer zu verzichten? Eine Antwort auf diese Frage lieferte 1975 Edward O. Wilson in seinem Buch „Soziobiologie“. Wilson war Ameisenforscher und fand die Lösung des Problems, als er beobachtete, wie die „Soldatinnen“ sozialer Insektenstaaten bereitwillig ihr Leben opferten, um den Bestand ihres Gemeinwesens zu verteidigen. Warum taten sie das?

    Da die einzelnen Mitglieder des Insektenstaates unfruchtbar sind und keine Nachkommen haben können, folgerte Wilson, daß nicht ihr individuelles Leben das höchste Gut sein könne, sondern ihr Genom, das allein von der Königin an die nächste Generation weitergegeben werden kann. Der Staat muß leben, damit die Königin leben und die gemeinsamen Gene weitergeben kann: Das ist die Ultima Ratio des Ameisenstaates, der sich jedes Individuum vollkommen unterwirft. Es stellte sich heraus, daß diese unter besonders einfachen, klaren Bedingungen am Beispiel der sozialen Insekten erkannten Prinzipien sich auf alle sozial lebenden Tiere übertragen ließen. Auch bei den Säugetieren, insbesondere für Homo Sapiens, fand man denselben Zusammenhang: Je mehr gemeinsame Gene zwei Menschen tragen, je höher ist die gegenseitige Bereitschaft zu helfen, zu verzichten, ausgeprägt. Zahlreiche Untersuchungen haben diese organische Verhaltensfunktion, den biologischen Altruismus, seither bestätigt.

    Dawkins entwickelte Wilsons Ideen philosophisch weiter und stellte sie in seinem nur ein Jahr später erschienenen Buch so anschaulich dar, daß sie von einem breiten Publikum verstanden wurden. Nicht das Individuum, das seine Gene weitergibt, ist das Maß der Dinge – sondern die Gene selbst schaffen sich Individuen als kurzlebige „Vehikel“, um jeweils von einer Generation in die nächste zu kommen. Wir sind daher als Individuen in erster Linie Repräsentanten potentiell unsterblicher Gene, Teil eines Gesamtzusammenhanges, einer Ahnenreihe, deren vorläufigen Endpunkt wir bilden; zugleich Ausgangspunkt all jener Generationen, die nach uns kommen. Treibende Kraft dieser Entwicklung ist, metaphorisch betrachtet, der Selbstbehauptungswille der Gene, deren evolutionäre Bestimmung es ist, unter den naturgegebenen Bedingungen zu sein und weiterzuleben. Dawkins‘ Betrachtungsweise impliziert ein quasi-religiöses Element, sie definiert Antworten nach Sinn und Sein neu in einem naturwissenschaftlichen Kontext. Das ist der Grund, warum er in neuerer Zeit vor allen Dingen als Religionskritiker bekannt geworden ist, Sprachrohr einer wissenschaftlichen Haltung, die sich für die Überwindung eines naiven, archaischen Gott-Glaubens ausspricht.

    Die autosomalen Gene und das Y-Chromosom

    Funktion und Bedeutung des Y-Chromosoms haben wir in unserer Serie über Haplogruppen ausführlich behandelt, wir wollen das daher an dieser Stelle nur noch in dem Maße tun, wie es für die gegenwärtige Betrachtung von Belang ist. Das menschliche Genom ist, wie das der meisten höheren Tiere, auf zwei sich entsprechenden Sätzen von insgesamt 46 Chromosomen codiert, wobei je eine Hälfte vom Vater, die andere von der Mutter geerbt wird. Die ersten 22 Chromosomenpaare sind durchnummeriert (1-22, A und B). Die beiden letzten, X und Y, spielen eine besondere Rolle. Während sich die anderen Paare jeweils entsprechen und gemeinsam einzelne Körpermerkmale ausdrücken, gibt es hier zwei Variationen: XX oder XY. Wer zwei X-Chromosome trägt, ist eine Frau, der Mann trägt X und Y. Die Frau vererbt eines ihrer beiden X auf den Nachwuchs, der Mann entweder sein X oder sein Y. Im ersten Fall hat er eine Tochter, im zweiten einen Sohn. Das bedeutet, daß das Y-Chromosom immer vom Vater stammt und zugleich in der direkten männlichen Linie bis in graue Vorzeit zurückverfolgt werden kann. Während also die übrigen Gene sich in jeder Generation verzweigen und immer weiter „verdünnen“ – nur die Hälfte wird jeweils weitergegeben - ist das Y-Chromosom in der männlichen Linie die einzige echte Konstante und „reist“ praktisch unverändert von Generation zu Generation.

    Man erkennt leicht, daß Dawkins‘ revolutionäre Vision von unsterblichen Genen, die durch die Generationen reisen, am besten direkt auf das Y-Chromosom passt. Bei den übrigen, „autosomalen“ Chromosomen geht schon dem direkten Nachfahren die Hälfte verloren, der nächste hat nur noch ein Viertel, der übernächste ein Achtel – nach 10 Generationen bleibt, statistisch gesehen, eine genetische Übereinstimmung mit einem bestimmten Vorfahren von lediglich 0,05%. Man kann natürlich argumentieren, daß ein Individuum, das Kinder bekommt, in der Regel mehrere Nachkommen hat und so nicht stets die Hälfte, sondern ein kleinerer Teil verlorengeht. Dennoch paßt ein Mechanismus, dessen Grundprinzip die Selbstbehauptung der Gene sein soll, nicht gut zu der Tatsache, daß in zweigeschlechtlicher Fortpflanzung in jeder Generation Gene nach dem Zufallsprinzip verschwinden. Man könnte sagen – und das würde Dawkins sicherlich tun – das Prinzip verlange gar keine Kontinuität auf der Ebene des Individuums, der Ausgangspunkt spiele aus der Sicht einzelner Gene keine Rolle. Zwar würden sie aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang im Körper eines evolutionär erfolgreichen Individuums herausgerissen und immer mehr vereinzelt, aber durch die entsprechend große Zahl anderer Nachkommen der Bezugsperson nehme ihre Menge gar nicht ab. Doch dieser Sichtweise ist nur bedingt zuzustimmen. Denn es ist gerade das Zusammenspiel bestimmter Gene, die den Erfolg des Individuums ausmachen. Das isoliert betrachtete einzelne Gen hat für das Überleben des Individuums – und damit das eigene Überleben keine große Signifikanz. Entscheidend ist seine Funktion im Gesamtzusammenhang aller Gene eines Körpers. In jeder Generation werden die körperlichen und geistigen Eigenschaften durch das Zusammenwirken der mütterlichen und väterlichen Chromosomensätze neu bestimmt, je zwei zufällig aufeinandertreffende Gene bilden zusammen eine neue Eigenschaft. Damit aber verliert Darwins Grundgedanke, daß erfolgreiche Individuen mehr Nachkommen haben und ihre Gene sich entsprechend kontinuierlich weiter verbreiten, einen großen Teil ihrer Überzeugungskraft. Ohne die Kontinuität bestimmter Gen-Kombinationen würden in jeder Generation Eigenschaften neu ausgewürfelt, und es wären daher immer andere Individuen mit anderen Genen erfolgreich. Kausal überzeugender ist eine Vorstellung, die von erfolgreichen Eigenschaften ausgeht, die, gerade weil sie erfolgreich sind, direkt von Generation zu Generation weitergegeben werden.

    Was wissen wir nun über dieses Y-Chromosom, das in der männlichen Linie durch die Generationen reist? In der Vorstellung der meisten Biologen spielt es eine kümmerliche Rolle. Es gilt als „verkrüppelt“, „zurückgebildet“, habe, weil seine zentrale Rolle sich auf die Bestimmung des Geschlechts beschränkt, einen großen Teil seiner früheren Eigenschaften „verloren“. Tatsächlich ist es kleiner als die meisten Artgenossen und beinhaltet etwa 1,8 % des gesamten Genoms (bei 46 Chromosomen beträgt der durchschnittliche Anteil 2,17 % ). Wichtig sei es in erster Linie für die Ausprägung männlicher Eigenschaften, etwa der Geschlechtsorgane oder der Hormondosierung, auch auf die Fertilität soll es einen Einfluß haben. Neuerdings wird es auch mit der Anfälligkeit für bestimmte Krankheiten in Verbindung gebracht. Das war‘s schon. Das Y-Chromosom ist die einzige Konstante in der Abstammungslinie höherer Tiere. Sollte es die Natur, deren ordnendes, evolutionäres Prinzip gerade darauf zielt, Bleibendes in einer ansonsten chaotischen Umgebung hervorzubringen, ganz umsonst hervorgebracht haben? Sollte es diesen Schlüssel zur kontinuierlichen Höherentwicklung des Lebens besitzen, ohne ihn zu benutzen? An der Ausprägung somaler, also körperlicher und geistiger Merkmale, soll es jedenfalls nicht beteiligt sein. Die Gene dafür liegen, so die verbreitete Überzeugung, ausschließlich auf den autosomalen Chromosomen (1-22, A/B). Demnach wären jene 1,8 % des Genoms, die auf Y liegen, überwiegend Datenmüll ohne Funktion. Wahrscheinlicher ist aber, daß sie in ihrer Funktion bislang nicht verstanden worden sind. In diesem Zusammenhang ist es interessant zu wissen, daß auch die Gene für explizit männliche Merkmale nicht auf Y codiert sind, sondern auf den autosomalen Chromosomen 1-22. Zu Beginn der Schwangerschaft, soviel weiß man, wird eine Sequenz auf Y aktiv (SRY: Sex Determining Region on Y), die bestimmte autosomale Gene „aktiviert“ und damit die Entwicklung der Hoden einleitet. Sollte das also ein singuläres Ereignis sein – eine evolutionär entwickelte Funktion, die nur ein einziges Mal auftritt? Es wäre durchaus denkbar, daß wir hier das Grundprinzip der Funktionsweise von Y entdeckt haben: Auslösende Gene schalten bestimmte andere, proteinbildende Gene in den autosomalen Chromosomen frei und leiten körperliche Entwicklungen ein. Dann wäre Y die Schaltzentrale des entstehenden Körpers, die auf den riesigen „Datensatz“ des vorhandenen Genoms zugreift. Das Genom wäre ein gigantisches Dispositions-Archiv, ein Potential, aus dem Y nach Neigung Gene auswählen und einschalten kann. Das würde auch erklären, warum ein großer Teil unseres Genoms von Forschern als ungenutzter Genmüll klassifiziert wird. Oder, um es in Dawkins metaphorischer, anthropomorpher Sprache zu sagen: Das egoistische Y-Chromosom wäre die Triebfeder, die Konstante der Evolution und schöpft bei der Erschaffung des Körpers aus der riesigen Dispositionsmasse jener Gene, die ihm gerade zur Verfügung stehen. So ließe sich erklären, warum sich viele Menschen, die einen Gentest gemacht haben, den Angehörigen derselben Haplogruppe intuitiv verwandt fühlen.

    Während die anderen Chromosomen mit ihrem analogen Partner systematisch Gene austauschen („rekombinieren“), können X und Y das nicht tun, weil sie sich in ihrer Struktur grundsätzlich unterscheiden. Lediglich auf einem kleinen Abschnitt findet eine Rekombination statt. Es wäre also denkbar, daß Y jenem X, das seine Tochter bekommen wird, Informationen mit auf den Weg gibt. Auf diese Weise könnten wichtige Merkmale, die an die Kontinuität der männlichen Linie gekoppelt sind, ebenfalls auf die weiblichen Nachkommen übertragen werden. Auch die Tatsache, daß Frauen als Partner in der Regel solche Männer bevorzugen, die ihren Vätern ähnlich sind, wird so verständlich.

    Sollten sich diese Annahmen als richtig erweisen, hätte das weitreichende Folgen für das Selbstbild des Menschen. Nicht nur das Verhältnis der Geschlechter stände in neuem Licht, auch die Ereignisse der Weltgeschichte wären unter den gegebenen Voraussetzungen als Mit- oder Gegeneinander der Träger verschiedener Haplogruppen neu zu interpretieren. Das soll jedoch im Rahmen einer anderen Abhandlung geschehen.

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Geleitwort Reconquista 1/2020


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