RECONQUISTA

  • Demokratie im alten Griechenland

    Der Begriff „Demokratie“ hat seinen Ursprung im antiken Griechenland. Die Griechen haben die Demokratie wohl nicht erfunden, aber sie haben uns Namen und Mythos hinterlassen. Sicher gab es schon vorher Versuche, einen möglichst großen Teil des Volkes an der Regierung zu beteiligen. Die in Athen verwirklichte Form der Demokratie aber lebt bis heute als Modell und Namensgeberin weiter.Sie war schon früh Objekt religiöser Verehrung. „Demokratia“ war der Name einer Göttin, vor deren Statue auf der Akropolis Opfer dargebracht wurden. Die kultische Faszination scheint fortzuwirken. Wie selten zuvor beherrscht der Begriff „Demokratie“ heute weltweit den politischen Diskurs. Die Epoche der griechischen Demokratie dauerteetwa 200 Jahre, sie begann um 500 v. Chr. und endete im Jahre 322 v. Chr. mit dem Ende der Selbständigkeit Athens.Am Anfang sehr umstrittenIm Gegensatz zu heute war die Demokratie damals heftig umstritten, die großen Philosophen hielten sie für ein unmögliches Unterfangen und verspotteten sie als eine Herrschaft des Pöbels. Aristoteles sah in der Demokratie eine Dekadenz-Form des Staates, und Sokrates betrachtete sie nicht nur als einen intellektuellen Irrtum, sondern als einen Mißbrauch des Volkes zu politischen Zwecken. Denn das Volk sei wie ein Kind, unmündig und ahnungslos, und könne die Tragweite seiner politischen Entscheidungen nicht übersehen. Eine solche fundamentale Kritik fanden die Demokraten im alten Griechenland schon damals  gänzlich unerträg-lich, sie erklärten Sokrates zum Verfassungsfeind, schleppten ihn vor einen „Volksgerichtshof“ und verurteilten ihn „ganz demokratisch“ zum Tode.Damit zeigte sich zum ersten Male, daß Demokratie totalitäre Formen annehmen und die  „Herrschaft des Volkes“  sich auch als Tyrannei entpuppen kann.Über 2000 Jahre lang dachte niemand mehr daran, das antike Modell der Demokratie wiederzubeleben. Es galt als antiquiert. Erst in neuerer Zeit, insbesondere nach der französischen Revolution, als der Gedanke der Gleichheit und Gleichberechtigung weite Verbreitung fand, wurde die Idee  der Demokratie neu belebt. Aus der Krise der alten Ordnung ging eine Bewegung hervor,  die wie im alten Athen eine maximale Beteiligung der Bürgerschaft an politischen Entscheidungen anstrebte und sich  aus diesem Grunde „demokratisch“ nannte. Herrschaftssicherung mit der UnterschichtWie in der Neuzeit so war auch in Griechenland die  Wende zur Demokratie das Ergebnis eines Zusammenbruchs der alten Ordnung. Mit dem Ende der Diktatur des Peisistratos im Jahre 510 erwiessich die alte Adelsherrschaft als nicht mehr tragfähig.  Sie beruhte auf der seit Solon bestehenden Einteilung der Bürgerschaft in vier Vermögens-Klassen, die den vier Klassen  der Heeresordnung entsprachen. Nur die oberen Klassen, der Adel  und die Reiter (Hippeis), übten bis dahin die poli-tische Herrschaft aus. Mit den Reformen des Kleisthenes im Jahre 508 erhielten auch die unteren Klassen, die als gepanzerte Fuß-Soldaten (Hopliten) in der Phalanx kämpften, und die Besitzlosen (Theten), die meist als Ruderer auf den Schiffen dienten, weitgehende Mitspracherechte. Um den Durchhaltewillen der Masse der einfachen Soldaten in der schwierigen Zeit der Perser-Kriege (500-479) aufrechtzuerhalten, war es unabdingbar, das einfache Volk an den Entscheidungen im Staate zu beteiligen. Die Demokratie war aus der Not geboren, die Beteiligung der Unterschicht war für die Herrschaftssicherung unumgänglich.Bürger ist, wer kämpfen kannDie Bevölkerung des Stadtstaates Athen, der das gesamte Gebiet der Halbinsel Attika umfaßte, bestand nach heutigen Schätzungen aus etwa 300.000 Personen. Bürgerrechte besaßen nur die 30.000 männlichen Vollbürger,  die zugleich die Wehrmacht Athens stellten.  Das Stimmrecht  war an die  Wehrpflicht gebunden. Frauen, Sklaven und Metöken,  so der Name der zugewanderten Fremden,  waren keine Bürger. Die Metöken, die man in heutiger Diktion als  „ausländische Mitbürger“ bezeichnen würde,  mußten eine gesonderte Metöken-Steuer  zahlen und besaßen nur eingeschränkte Rechte. Sie standen unter dem Schutz des Staates. (Der Begriff Metöke (frz. métèque) hat sich in manchen Sprachen erhalten  und bezeichnet dort noch heute den ungeliebten Fremden.) Ein besonderer Aspekt der Reformen des Kleisthenes war die Gemeindeordnung, die Bürger der Ober- und Unterschicht sowie von nah und fern zu Gemeinden (demos) zusammenfaßte und dadurch Klassenunterschiede und lokale Gegensätze einebnete. Die Homogenität des Staatsvolkes war eine Voraussetzung für das Gelingen der Demo-kratie. In Athen achtete man genau darauf, daß nur Athener zu Staatsbürgern wurden. Nach dem Staatsbürgergesetz von 451 durften nur Bürger, die in väterlicher und mütterlicher Linie von Athenern abstammten, öffentliche Ämter bekleiden.Die Volksversammlung braucht DiätenDas oberste Organ der athenischen Demokratie war die Volksversammlung (ekklesia), die sich auf einem Hügel namens Pnyx  in der Nähe der Oberstadt (grch. Akropolis) versammelte. Sie bestimmte aus ihrer Mitte einen Rat der 500, der die Versammlungen vorbereitete und leitete. Es wird geschätzt, daß maximal 6000 Bürger an einer Volksversammlung teilnahmen. Dort besaßen  alle Bürger gleiche Rechte: Gleiches Stimmrecht (Isonomie), gleiches Rederecht (Isogorie) und gleichen Zugang zu allen Ämtern. Der weitaus größte Teil der 600 Ämter wurde per Losverfahren vergeben. Auf diese Weise sollte die Herausbildung eines neuen Funktionsadels verhindert werden. Die Ämterrotation bedeutete für alle Bürger eine erhebliche Belastung.  Aus diesem Grunde  gab es seit 457 Diäten, die den Verdienstausfall bei Teilnahme an der Volksversammlung ausgleichen sollten.Parteienbildung und InstabilitätIn den Versammlungen konnte zwar jeder seineMeinung vortragen, schon bald aber  gewannen Einzelne aufgrund ihrer rhetorischen Begabung  entscheidenden Einfluß. Es bildeten sich meinungsbestimmende Gruppen, ähnlich den Medien heute, die oft von „Demagogen“ geführt wurden.  Demagoge war damals noch ein positiv besetzter Begriff. Der unablässige Kampf der „Parteien“  und auch die Wankelmütigkeit des Volkes machten eine konsequente Staatsführung schwierig.  Die  Demokratie erwies sich in weiten Teilen als „Stimmungsdemokratie“. Unausgegorene  „Reformen“,  rechtswidrige Beschlüsse und durch Großmannssucht geschürte Kriegsabenteuer waren die Folge. Die griechische Demokratie war von andauernder Instabilität geprägt.Die Probleme führten schon früh dazu, daß die Befugnisse der Volksversammlung  durch eine gesonderte Klasse von Richtern  (Nomotheten) eingeschränkt wurden, die als eine Form der Nomenklatura die Volksmacht im Zaume hielt. Perikles -  Höhepunkt der Demokratie?Aber nicht nur hierdurch wurde das demokratische Prinzip aufgehoben.  Die glanzvollste Zeit der Geschichte Athens war  bestimmt durch die überragende Gestalt des Perikles. Für drei Jahrzehnte beherrschte er die Volksversammlung und prägte den Willen des Volkes. Unter seiner Führung erreichte das Volk eine nie da gewesene Geschlossenheit  und Athen erreichte den Höhepunkt seinerMacht. Durch Perikles war das demokratische Ideal der völligen Übereinstimmung von Volk und Führung verwirklicht. Interessanterweise wird die Periode des Perikles oft als Beweis für die Überlegenheit der Demokratie angesehen,  obwohl hier das demokratische Prinzip eine Symbiose mit einem autoritären Herrschaftsmodell einging. Die Glanzzeit der Demokratie begann da,  wo sie aufhörte Demokratie zu sein. Daß man hier — auch in Ermangelung eines besseren Wortes — von Führer-Demokratie sprechen könnte, sei nur am Rande erwähnt. Die Erfahrungen im frühen Griechenland weisen darauf hin, daß die Demokratie einem „ehernen Gesetz der Oligarchisierung“ folgt und so in der Lage sein kann, Eliten und Führungspersonen zu generieren, die ihren Mangel an Entschlußkraft aufwiegen können. Die totale Demokratie scheint sich in einem Selbstheilungsprozeß selbst abzuschaffen und durch eine gemäßigte Form zu ersetzen.Demokratie als GroßmachtprojektDie ökonomische und machtpolitische Grundlage der griechischen Demokratie wird oft übersehen. Wohlstand und Luxus waren Voraussetzungen dafür, daß sich alle Bürger an dem politischen Geschäft beteiligen konnten. Die Inanspruchnahme der gesamten Bürgerschaft, oder besser der „demokratischen Klasse“, war nur möglich durch Ausbeutung  derjenigen, die nichts zu sagen hatten.Der Reichtum Athens  speiste sich aus einem Sklavenstaat im Inneren, und aus Kolonien und „Verbündeten“ im Äußeren.Gegenüber den Bundesgenossen hatten die  Athener die Tendenz, ihre Demokratie zu exportieren, ja sie sogar den Besiegten und Verbündeten aufzuzwingen und als ein Mittel athenischer Herrschaft zu nutzen.Der  Gedanke an die USA, deren Ziel ja ebenfalls die „Demokratisierung“ der Welt ist, liegt hier nahe. Schon im alten Griechenland war Demokratie ein Herrschaftsinstrument  der Hegemonialmacht, deren Machtfülle in Prachtbauten wie auf der Akropolis ihren Ausdruck fand. Aufgrund ihrer militärischen Überlegenheit  nahm Athen  Einfluß auf die innere Entwicklung der „Verbündeten“ und bestimmte die Bedingungen des „fairen Handels“. Der Gewinn daraus diente der Alimentierung des politischen Personals und der Glättung  sozialer Gegensätze. Das System der Diäten ermöglichte die Bereicherung für jene, die  nicht durch Leistung hervortreten konnten. Vorteilsnahme und Vetternwirtschaft waren schon in der Antike häufig beklagte Nebeneffekte der Demokratie. Fragen an die DemokratieDas griechische Modell der Demokratie wirft   zahlreiche Fragen auf.Einerseits steht noch immer die Grundfrage des Sokrates im Raum: Ist Demokratie wirklich die beste Herrschaftsform oder nur eine Täuschung des Volkes. Liegt in ihren Grundannahmen schon ein gedanklicher Fehler?Wenn man Demokratie für machbar, wünschenswert oder unvermeidbar hält,  dann stellen sich die Fragen nach ihrer Realisierung.Hat das griechische Demokratiemodell sich als  untauglich erwiesen oder gibt es Elemente,  die  brauchbar und sinnvoll sind?   Wer sollte das Stimmrecht erhalten? Nur die  Bürger oder auch die Metöken?Sollten alle das gleiche Stimmrecht besitzen?Wer fällt die Entscheidungen?Alle, nur Experten oder Delegierte, oder nur die Führung? Wer wählt diese aus?Wie wird der Parteienstreit vermindert? Wie der Aufstieg von Unfähigen und Opportunisten verhindert?Wie die Herrschaft des Geldes vermieden? Wie wird verhindert, daß rhetorische Überlegenheit  oder ein Kommunikations-Monopol zur Lenkung des Volkes mißbraucht wird?Wie kann die Herausbildung einer herrschenden Klasse oder gar die Steuerung des Volkes durch eine unsichtbare Elite ausgeschlossen werden?  Die Fragen haben sich so oder ähnlich schon in der Antike gestellt. Wir haben sie mit  der griechischen Überlieferung geerbt.Zwischen Postdemokratie und Internet Die griechische Demokratie wurde nach einer kurzen Blüte als untaugliches Modell verworfen und geriet danach für mehr als 2000 Jahre in Vergessenheit. Was sich heute so nennt, hat  bei genauerem Hinsehen mit dem Original wenig gemein.  Daß sich der Begriff jedoch im 19. Jahrhundert durchgesetzt hat, mag man als einen Irrtum der Geschichte ansehen. Sicherlich sagt er mehr über die Intention als über die Realisierung aus. Ob die heutige Demokratie wirklich eine weitgehende Beteiligung des Volkes realisiert oder nur eine Art Beruhigungsmittel für die Massen darstellt, die mittels der demokratischen Illusion leichter zu täuschen und besser zu regieren sind, sei hier dahingestellt.Daß „Demokratie“ für die Lenkung der Massen nicht mehr ausreicht, wird in den politischen Eliten schon seit geraumer Zeit diskutiert. Das Demokratie-Denkmal bröselt und die kultische Absicherung bekommt Risse.In der Politikwissenschaft kursiert der Begriff „Post-Demokratie“, wobei nicht ganz klar ist, was damit gemeint ist. Soll das demokratische Modell ganz verworfen oder nur modifiziert werden? Es ist jedenfalls nicht ganz ausgeschlossen, daß zukünftige Generationen auf die heutigen Demokraten mit einem ähnlichen Gefühl der Überlegenheit herabblicken werden, wie wir heute auf die Untertanen der vordemokratischen Zeit. Dann könnte der Glaube an die Demokratie als ähnlich rückständig angesehen werden wie der Glaube, daß sich die Sonne um die Erde dreht. Im Zeitalter des Internets könnte die Entwicklung jedoch auch in eine ganz andere Richtung gehen.  Eine immer weitergehende Beteiligung der Bevölkerung über die elektronischen Medien könnte für einen Entwicklungsschub hin zu mehr direkter Demokratie sorgen, sofern sich die herrschenden Funktions-Eliten dem nicht wirksam entgegenstellen. Es bleibt abzuwarten, ob einer neuen Welle der Demokratisierung erst eine große Krise vorangehen muß.

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