RECONQUISTA

  • Der demokratische und der reale Mensch

    Zum Menschenbild westlicher Gesellschaften

    Ein Grundproblem menschlicher Erkenntnis liegt in der Unmöglichkeit, Sachverhalte bis ins Detail so wahrzunehmen und aufzufassen, wie sie tatsächlich sind. Angesichts einer Natur, die in ihrer Komplexität die Kapazität des menschlichen Geistes bei weitem überfordert, sind wir stets gezwungen zu abstrahieren, Modelle zu entwerfen, vereinfachende Abbilder der Realität, um auf diese Weise zumindest die wichtigsten kausalen Zusammenhänge des jeweiligen Sachverhalts zu verstehen. Komplizierte Zusammenhänge, und dazu zählt die Organisation des sozialen Miteinander in menschlichen Gesellschaften, erfassen wir daher stets etwas unscharf: Wir können lediglich einige, wichtige Aspekte in den Vordergrund rücken und besonders fokussieren, während die große Masse an Informationen im Hintergrund quasi verschwimmt.

    Nun ist die menschliche Gesellschaft eine Sphäre widerstreitender menschlicher Interessen, und so kommt es, daß je nach Interessenlage ganz unterschiedliche Vorstellungen über die Realität des staatlichen Zusammenlebens vorhanden sind; sofern es Profiteure gibt, werden sie bei der modellhaften Beschreibung ihres Staates ganz andere Schwerpunkte setzen, also ganz anders fokussieren als jene, die sich benachteiligt sehen. Aus diesem Grund sind Diskussionen über die staatliche Organisation meist stark subjektiv eingefärbt, und oft existieren zwei oder mehr verschiedene Lager, deren Konzepte derselben Realität sich so stark unterscheiden, daß eine Verständigung kaum noch möglich ist.

    Obwohl fast alle modernen Gesellschaftsordnungen für sich in Anspruch nehmen, die Beziehungen der Menschen in einem bestimmten Sinne gerecht zu organisieren, bildet sich in der Praxis doch oft eine bestimmte Gruppe von Menschen mit bestimmten Eigenschaften heraus, die es versteht, die Gegebenheiten zu ihrem eigenen Vorteil und zum Nachteil der großen Mehrheit zu nutzen und die politische Ordnung in diesem Sinne weiterzuentwickeln. Sie wird dann versuchen, jene Ungerechtigkeiten, von denen sie selbst profitiert, als unwichtig oder unvermeidlich darzustellen, das Nachdenken darüber nach Möglichkeit sogar zu tabuisieren, während Unzufriedene und Oppositionelle umgekehrt daran interessiert sind, die öffentliche Aufmerksamkeit gerade in diese Richtung zu lenken. So ist also zu erklären, daß Profiteure, Politiker und Ideologen in einer anderen politischen Realität leben können als die große Menge des Volkes. Wir haben in der letzten Ausgabe bereits gesehen, in welcher Weise die herrschenden merkantilen Eliten ihre finanzielle und mediale Machtpositionen konsequent ausgenutzt haben, um die Bürger in den westlichen Gesellschaften über die politische Realität zu täuschen. Wir wollen den Gedanken an dieser Stelle wieder aufnehmen und zeigen, inwieweit die Eliten auch davon profitieren, daß die Politikauffassung der großen Mehrheit der Bevölkerung inkompatibel ist mit der realexistierenden Ordnung. So wie jeder Betrüger ein Interesse daran haben muß, die Motive seines Handelns im Dunkeln zu halten, damit der unmoralische Charakter seines Handelns unerkannt bleibt - den wichtigsten Hinweis zur Aufklärung kriminellen Verhaltens liefert stets das Motiv – so müssen auch die Profiteure des politischen Systems darauf bedacht sein, die Motive ihres Handelns zu verschleiern. Die Tatsache, daß diese Motive von der breiten Mehrheit entweder nicht geteilt oder nicht einmal nachvollzogen werden können, erweist sich als ausgesprochen hilfreich.

    Wir wollen dieses Missverständnis, diesen Unterschied zwischen der politischen Konzeption des westlichen Staates und der Politikauffassung des durchschnittlichen Bürgers an einer Reihe von Beispielen verdeutlichen.

    Wenn man sich die Gegebenheiten eines politischen Systems anschaut, so spiegeln sich in seinen Werten und Zielen, in seinem Menschenbild die Charaktereigenschaften jener Akteure, die sie, für sich und für ihresgleichen, geschaffen haben. Was bedeutet das für die moderne westliche Demokratie? Nun, diese Ordnung versteht sich selbst als pragmatischen Zusammenschluß einzelner Menschen, deren Handlungshorizont über das eigene Ich, das einzelne Individuum, niemals hinausgeht. Diese Individuen können interagieren, sie können zum Zweck der Interessenvertretung zum Kollektiv sich zusammenfinden, um sich bei nächster Gelegenheit mit anderer Interessenlage neu und ganz anders zu gruppieren. Sie können zum Zweck emotionaler Bedürfnisbefriedigung auch private Freundschaften schließen oder Familien gründen; sie können sogar, sofern es ihnen seelisch wohltut, Bedürftigen helfen – aber, was immer sie tun, es geht ihnen nie um die Mitbürger, die Freunde, nicht um andere Familienangehörige und ebensowenig um die Bedürftigen, sondern immer nur ausschließlich um sich selbst. Auch scheinbar selbstloses Handeln zielt letztlich niemals auf den Anderen. Wer „Gutes“ tut, schielt nach der Anerkennung durch seine Mitmenschen, wer anderen hilft, folgt lediglich einem egoistischen emotionalen Impuls. Echte Gemeinschaft, die über das Individuum hinausweist und nach höheren, gemeinsamen Zielen strebt, ist hier unbekannt.

    Die kleine Welt des westlichen Individuums beginnt mit seiner Geburt und endet mit dem Tod. Es empfindet keine Bindung zu den zahllosen Generationen, die vor ihm gelebt haben und jenen, die nach ihm kommen. Allenfalls aus historischem Interesse oder aus Sentimentalität wird es sich mit der Vergangenheit oder der Zukunft beschäftigen, tatsächlich aber ist beides, weil es jenseits des individuellen Horizonts liegt, irrelevant. So geht es ihm allein darum, im Hier und Jetzt ein gutes Leben zu führen oder zumindest das, was man dafür hält. Sein Leben lang ist der westliche Mensch auf der Jagd nach dem guten Gefühl, nach allem, was in irgendeiner Weise angenehm erscheint. Das wichtigste Mittel zum Glück scheint ihm das Geld zu sein, mit dem er sein Bedürfnis nach dem Besitz materieller Güter befriedigen kann. Das Streben nach Geld ist daher sein primäres Anliegen, und er bemisst seine Lebensleistung direkt oder indirekt in derjenigen Geldsumme, die er im Laufe seiner Existenz akkumulieren kann.

    So also denkt und fühlt der ideale Bürger einer westlichen Demokratie, zumindest in der ideologischen Vorstellung ihrer Vordenker. Zugleich liefert uns diese Beschreibung eine Persönlichkeitsskizze der kapitalistischen Eliten, die sich im Streben nach Reichtum als besonders erfolgreich erwiesen haben. Doch stellen sie in der europäischen Bevölkerung nur eine kleine Minderheit dar. Zwar gibt es auch jene, die im Wettlauf um das größte Vermögen auf der Strecke geblieben sind – aber die Mehrheit der Menschen hat ganz andere Bedürfnisse. Die Betrachtung historischer Staatswesen und ihrer Werte zeigt, daß der Mensch von Natur aus ein Gemeinschaftswesen ist. Der traditionelle Staat ist nach dem Vorbild der erweiterten Familie entstanden, deren genetische Verwandtschaft die Mitglieder untereinander verpflichtet. Der Mensch ist hier nicht bloß Individuum, sondern er überträgt einen Teil seiner Identität auf die übergeordnete Gruppe, der er von Natur aus angehört. Er strebt daher nicht nur seinen eigenen Erfolg an, sondern er ist zugleich bemüht, einen Beitrag zum Erfolg der übergeordneten Einheit - der Familie, der Sippe, der staatlichen Gemeinschaft - zu leisten. Jede Generation von Familienmitgliedern oder Bürgern steht an ihrem Platz in einer langen Kette von Vorfahren. Von denen hat man die Kultur und die zivilisatorischen Leistungen vergangener Jahrhunderte geerbt, an seine Nachkommen wird man sie einst weitergeben. Versteht man sich selbst als Teil einer solchen, generationenübergreifenden Gemeinschaft, so stehen nicht die subjektiven, individuellen Bedürfnisse im Vordergrund, sondern man identifiziert sich zugleich mit den in die Zukunft gerichteten Zielen der gesamten Gruppe, und man ist gleichzeitig bemüht, die Grundlage zu legen für das Leben kommender Generationen. Wir werden an anderer Stelle zeigen, in welcher Weise die soziobiologischen, also die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte diese Interpretation des Staates als natürliche Gemeinschaft unterstützen.

    So ist der reale europäische Mensch also ein Gemeinschaftswesen, das sich wohl oder übel in der ideologisch deformierten Gegenwartsgesellschaft zurechtzufinden hat. Der auf diese Weise politisch vergewaltigte Bürger westlicher Staaten ist bemüht, sein Leben in Übereinstimmung mit den von oben verordneten Regeln zu bringen. Er versucht Geld zu akkumulieren, zu konsumieren, glücklich zu sein – zumeist erfolglos. Die Depression ist zur Volkskrankheit geworden. Natürliches Empfinden steht im Gegensatz zum ideologischen Überbau, der oftmals gar nicht verstanden und durch mediale Beeinflussung ganz allmählich erst im Laufe des Lebens verinnerlicht wird.

    An zahlreichen Beispielen lässt sich erkennen, wie das natürliche Empfinden von den Vorgaben der westlich-demokratischen Theorie abweicht: Trotz aller Anstrengungen, sich selbst zu verwirklichen, möchte die Mehrheit der Menschen Teil eines gemeinsamen politischen Projektes sein, das in die Zukunft weist, sie möchte die kulturellen und zivilisatorischen Errungenschaften an die nächste Generation weitergeben. Jahrzehntelang war die staatliche Pädagogik bemüht, den Begriff der nationalen Identität negativ zu besetzen oder unauffällig ganz verschwinden zu lassen. Vor ein paar Jahren setzte sich dann die Erkenntnis durch, daß ein Staat ohne gemeinschaftliche Identität nicht funktioniert. Seitdem sehen die Lehrpläne in Deutschland wahlweise entweder die Vermittlung einer europäischen, oder aber einer explizit bundesdeutschen Identität vor, die sich allein auf eine Tradition seit 1945 beruft und die sich als Gegenbild zum historischen deutschen Nationalismus versteht.

    Die im Sinne des individualistischen Systems folgerichtige Heuschrecken-Mentalität der internationalen Banken und Großkonzerne wird von der Bevölkerung mit Unverständnis aufgenommen. Die Mehrheit der Bürger glaubt, es ginge in der Politik darum, objektiv gute und richtige Entscheidung zum Vorteil Deutschlands zu treffen. „Experten“ seien Fachleute, die Politiker im Rahmen dieser Aufgabe beraten. Doch das erweist sich als großes Missverständnis. Eine rein individuell gedachte Gesellschaft kennt keine Gemeinschaft, keinen Gemeinsinn und damit auch keine richtigen Entscheidungen. Es gibt allein Individuen und ihre subjektiven egoistischen Interessen, und so würde Politik im besten Fall bedeuten, in diesem Spiel eine Schiedsrichterfunktion zu übernehmen. „Experten“ sind in Wahrheit nichts anderes als Lobbyisten, gedungene Vertreter der subjektiven Interessen ihrer jeweiligen Auftragsgeber. Parteien haben demnach die jeweiligen Interessen aufzugreifen, zu bündeln und in einer marktähnlich gedachten Situation um deren Durchsetzung zu feilschen. Das wäre der Kern des demokratischen Prozesses. Wir haben in der letzten Ausgabe dieses Magazins aber gezeigt, daß es in Wahrheit viel schlimmer ist: In der Praxis der realexistierenden Demokratie haben die Parteien vielmehr die Aufgabe, nach außen den demokratischen Schein zu wahren und zugleich die Interessen der Banken Großkonzerne gegen die Mehrheitsbevölkerung durchzusetzen.

    Die Aufgabe der alternativen Medien und der Multiplikatoren im Netz muß es sein, den Gegensatz von wahrgenommener und realer Politik deutlich zu machen. Wenn die Menschen aus ihrem „demokratischen“ Traum erwachen – und dieser Prozeß hat eingesetzt und wird sich als unumkehrbar erweisen – wenn sie verstehen, in welchem Staat sie tatsächlich leben, wird sich die gegenwärtige Ordnung nicht auf Dauer halten können.

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