RECONQUISTA

  • 10-03-23 13:17 Alter: 1 Jahr/e

    Franz Oppenheimer: Der Staat (1909)

    Auszüge aus einem wichtigen Standardwerk

    Von der Entstehung des Staates: Die Eroberung und Überschichtung ortsgebundener Bauernkulturen durch militärisch überlegene Kriegergruppen



    Was ist also der Staat im soziologischen Begriffe? Schon die Geschichte des Wortes sagt es uns. Es stammt aus der italienischen der Renaissanceperiode. Dort bezeichnete es den, zumeist durch Gewalt zur Herrschaft gelangten, Fürsten samt seinem Anhang: »Die Herrschenden und ihr Anhang heißen lo stato, und dieser Name durfte dann die Bedeutung des gesamten Daseins eines Territoriums usurpieren«, sagt Jakob Burckhardt. So hatte Ludwig XIV. mit seinem hochfahrenden Wort: »L'Etat c'est moi« in einem tieferen Sinne recht, als er selbst ahnte. In unserem Worte »Hofstaat« lebt die alte Bedeutung noch fort. Das ist »das Gesetz, nach dem er angetreten«, und das ist der Staat geblieben. Er ist seiner Entstehung nach ganz und seinem Wesen nach auf seinen ersten Daseinsstufen fast ganz eine gesellschaftliche Einrichtung, die von einer siegreichen Menschengruppe einer besiegten Menschengruppe aufgezwungen wurde mit dem einzigen Zwecke, die Herrschaft der ersten über die letzte zu regeln und gegen innere Aufstände und äußere Angriffe zu sichern. Und die Herrschaft hatte keinerlei andere Endabsicht als die ökonomische Ausbeutung der Besiegten durch die Sieger. Kein primitiver »Staat« der Weltgeschichte ist anders entstanden. […]

    Überall bricht ein kriegerischer Wildstamm über die Grenzen eines weniger kriegerischen Volkes, setzt sich als Adel fest und gründet seinen Staat. Im Zweistromlande Welle auf Welle und Staat auf Staat: Babylonier, Amoriter, Assyrer, Araber, Meder, Perser, Makedonier, Parther, Mongolen, Seldschucken, Tataren, Türken; am Nil Hyksos, Nubier, Perser, Griechen, Römer, Araber, Türken; in Hellas die Dorierstaaten, typischen Gepräges; in Italien Römer, Ostgoten, Langobarden, Franken, Normannen, Deutsche; in Spanien Karthager, Römer, Westgoten, Araber; in Gallien Römer, Franken, Burgunder; in Britannien Sachsen, Normannen. Welle auf Welle kriegerischer Wildstämme auch über Indien bis hinab nach Insulindien, auch über China ergossen; und in den europäischen Kolonien überall der gleiche Typus, wo nur ein seßhaftes Bevölkerungselement vorgefunden wurde: in Südamerika, in Mexiko. Wo es aber fehlt, wo nur schweifende Jäger angetroffen werden, die man wohl vernichten, aber nicht unterwerfen kann, da hilft man sich, indem man die auszubeutende, fronpflichtige Menschenmasse von fern her importiert: Sklavenhandel! […]

    Es gibt zwei grundsätzlich entgegengesetzte Mittel, mit denen der überall durch den gleichen Trieb der Lebensfürsorge in Bewegung gesetzte Mensch die nötigen Befriedigungsmittel erlangen kann: Arbeit und Raub, eigne Arbeit und gewaltsame Aneignung fremder Arbeit. »Raub! Gewaltsame Aneignung!« Uns Zeitgenossen einer entwickelten, gerade auf der Unverletzlichkeit des Eigentums aufgebauten Kultur klingen beide Worte nach Verbrechen und Zuchthaus; und wir werden diese Klangfarbe auch dann nicht los, wenn wir uns davon überzeugen, daß Land- und Seeraub unter primitiven Lebensverhältnissen geradeso wie das Kriegshandwerk - das ja sehr lange auch nur organisierter Massenraub ist - die weitaus angesehensten Gewerbe darstellen. […]

    Die primitiven Jäger aber leben durchaus in praktischer Anarchie. Im allgemeinen sind alle erwachsenen Männer innerhalb des Stammes gleichberechtigt. […] Die Gesellschaftsbildungen der primitiven Ackerbauern haben kaum mehr Ähnlichkeit mit einem »Staate« als die Jägerhorden. Wo der mit der Hacke den Boden bearbeitende Bauer in Freiheit lebt - der Pflug ist schon immer Kennzeichen einer höheren Wirtschaftsform, die nur im Staate vorkommt, nämlich der von unterworfenen Knechten betriebenen Großwirtschaft -, da gibt es noch keinen »Staat«. Isoliert voneinander, weithin zerstreut in einzelnen Gehöften, vielleicht Dörfern, durch Streitigkeiten wegen Gau- und Ackergrenzen zersplittert, leben sie bestenfalls in losen Eidgenossenschaften, nur locker von dem Bande zusammengehalten, das das Bewußtsein gleicher Abstammung und Sprache und gleichen Glaubens um sie schlingt. Selten nur, vielleicht einmal im Jahre, eint sie die gemeinsame Feier berühmter Ahnen oder der Stammesgottheit. Eine über die Gesamtheit herrschende Autorität besteht nicht; die einzelnen Dorf-, allenfalls Gauhäuptlinge haben je nach ihren persönlichen Eigenschaften, namentlich nach der ihnen zugetrauten Zauberkraft, mehr oder weniger Einfluß in ihrem beschränkten Kreise.

    Wie Cunow die peruanischen Hackbauern vor dem Einbruch der Inka schildert, so waren und sind die primitiven Bauern überall in der Alten und Neuen Welt: »ein ungeregeltes Nebeneinander vieler unabhängiger, sich gegenseitig befehdender Stämme, die sich ihrerseits wieder in mehr oder weniger selbständige, durch Verwandtschaftsbande zusammengehaltene Territorialverbände spalteten«. In einem solchen Zustande der Gesellschaft ist das Zustandekommen einer kriegerischen Organisation zu Angriffszwecken kaum denkbar. Es ist schon schwer genug, den Gau oder gar Stamm zur gemeinsamen Verteidigung mobil zu machen. Der Bauer ist eben immobil, bodenständig, wie die Pflanze, die er baut. Er ist durch seinen Betrieb auch dann tatsächlich »an die Scholle gebunden«, wenn er rechtlich frei beweglich ist. Und welchen Zweck sollte ein Raubzug in einem Lande haben, das weithin nur von Bauernschaften besetzt ist? Der Bauer kann dem Bauern nichts nehmen, was er nicht selbst schon besitzt. Jedem von ihnen bringt wenig Arbeit in der extensiven Kultur eines durch Überfluß an Feldland ausgezeichneten Gesellschaftszustandes so viel, wie er braucht; ein Mehr wäre ihm überflüssig, seine Erwerbung verlorene Mühe, selbst wenn er das erbeutete Korn länger aufbewahren könnte, als in so primitiven Verhältnissen möglich, wo es schnell durch Witterungseinflüsse oder Ameisenfraß u. dgl. zugrunde geht. Muß doch nach Ratzel der zentralafrikanische Bauer den überschüssigen Teil seiner Ernte schleunigst in Bier verwandeln, um ihn nicht ganz zu verlieren! Aus allen diesen Gründen geht dem primitiven Bauern der kriegerische Offensivgeist gänzlich ab, der den Jäger und Hirten auszeichnet: der Krieg kann ihm keinen Nutzen bringen. Und diese friedliche Stimmung wird noch dadurch verstärkt, daß ihn seine Beschäftigung nicht gerade kriegstüchtig macht. Er ist wohl muskelstark und ausdauernd, aber von langsamen Bewegungen und zögerndem Entschluß, während der Jäger und der Hirt durch ihren Beruf zu Schnelligkeit und rascher Tatkraft erzogen werden. Darum ist der primitive Bauer zumeist von sanfterer Gemütsart als jene. Kurz: in den ökonomischen und sozialen Verhältnissen des Bauerngaues besteht keine Differenzierung, die zu höheren Formen der Integrierung drängte, besteht weder der Trieb noch die Möglichkeit zu kriegerischer Unterwerfung der Nachbarn, kann also kein »Staat« entstehen, und ist auch nie ein solcher entstanden. Wäre kein Anstoß von außen, von Menschengruppen anderer Ernährungsart gekommen - der primitive Bauer hätte den Staat nie erfunden. […]

    Auch der Bauer kann mit seiner undisziplinierten Landwehr, die aus ungeübten Einzelkämpfern besteht, dem Anprall der reisigen Hirten nicht auf die Dauer widerstehen, selbst wenn er in starker Überzahl ficht. Aber der Bauer weicht nicht aus, denn er ist bodenständig; und der Bauer ist an regelmäßige Arbeit schon gewöhnt. Er bleibt, läßt sich unterwerfen und steuert seinem Besieger: das ist die Entstehung des Landstaates in der Alten Welt! In der Neuen Welt, wo die großen Weidetiere, Rinder, Pferde, Kamele ursprünglich nicht vorhanden sind, tritt an die Stelle des Hirten der dem Hackbauern durch Waffengewandtheit und kriegerische Disziplin immer noch unendlich überlegene höhere Jäger. »Der in der Alten Welt kulturzeugende Gegensatz von Hirten- und Ackerbauvölkern reduziert sich in der Neuen auf den Gegensatz von wandernden und ansässigen Stämmen. […]

    Nirgends zeigt es sich so klar wie hier auf der Grenze nomadisierender und ackerbauender Völker, daß die großen Wirkungen der kulturfördernden Anstöße der Nomaden nicht aus friedlicher Kulturtätigkeit hervorgehen, sondern als kriegerische Bestrebungen friedlichen zuerst entgegenwirken, ja schaden. Ihre Bedeutung liegt in dem Talent der Nomaden, die sedentären und leicht auseinanderfallenden Völker energisch zusammenzufassen. Das schließt aber nicht aus, daß sie dabei viel von ihren Unterworfenen lernen können. Was aber alle diese Fleißigen und Geschickten nicht haben und nicht haben können, das ist der Wille und die Kraft, zu herrschen, der kriegerische Geist und der Sinn für staatliche Ordnung und Unterordnung.

    Bei der Entstehung des Staates aus der Unterwerfung eines Ackerervolkes durch einen Hirtenstamm oder durch Seenomaden lassen sich sechs Stadien unterscheiden. Wenn wir sie im folgenden schildern, so ist nicht die Meinung, als wenn die reale historische Entwicklung gezwungen gewesen sei, in jedem einzelnen Falle die ganze Treppe, Stufe für Stufe, zu erklettern. Zwar ist hier nichts theoretische Konstruktion; jede einzelne Stufe findet sich in zahlreichen Vertretern in Weltgeschichte und Völkerkunde, und es gibt Staaten, die sie augenscheinlich sämtlich absolviert haben. Aber es gibt mehr, die eine oder mehrere der Stufen übersprungen haben.

     

    1. Das erste Stadium ist Raub und Mord im Grenzkriege: ohne Ende tobt der Kampf, der keinen Frieden noch Waffenstillstand kennt. Erschlagene Männer, fortgeführte Kinder und Weiber, geraubte Herden, brennende Gehöfte! Werden die Angreifer mit blutigen Köpfen heimgeschickt, so kommen sie in stärkeren und stärkeren Haufen wieder, zusammengeballt durch die Pflicht der Blutrache. Zuweilen rafft sich wohl die Eidgenossenschaft auf, sammelt die Landwehr, und es gelingt ihr vielleicht auch einmal, den flüchtigen Feind zu stellen und ihm auf eine Zeitlang die Wiederkehr zu verleiden; aber allzu schwerfällig ist die Mobilmachung, allzu schwierig die Verpflegung in der Wüste für die Bauernlandwehr, die nicht, wie der Feind, ihre Nahrungsquelle, die Herden, mit sich führt […] - und schließlich ist der Kirchtumsgeist mächtig, und daheim liegen die Äcker brach. Darum siegt auch in solchen Fällen auf die Dauer fast immer die kleine, aber geschlossene bewegliche Macht über die größere zersplitterte Masse, der Panther über den Büffel. Das ist das erste Stadium der Staatsbildung. Sie kann jahrhunderte-, vielleicht jahrtausendelang darauf stehen bleiben. […]

    Zum ersten Stadium zu rechnen sind auch die aus der ganzen altweltlichen Geschichte bekannten Massenzüge, soweit sie nicht auf Eroberung, sondern lediglich auf Plünderung abzielten, Massenzüge, wie sie Westeuropa durch die Kelten, Germanen, Hunnen, Avaren, Araber, Magyaren, Tataren, Mongolen und Türken vom Lande und durch die Wikinge und Sarazenen vom Wasser her erlitten hat. Sie überschwemmten weit über das gewohnte Raubgebiet hinaus ganze Erdteile, verschwanden, kehrten wieder, versickerten und hinterließen nur eine Wüste. Häufig genug aber schritten sie in einem Teil des überfluteten Gebietes unmittelbar zum sechsten und letzten Stadium der Staatsbildung, indem sie eine dauernde Herrschaft über die Bauernbevölkerung errichteten. […] Man muß nur weit genug zurücktreten, den Standpunkt so hoch wählen, daß das bunte Spiel der Einzelheiten uns die großen Massenbewegungen nicht mehr verbirgt; dann entschwinden unserem Blick die »modi« der Kämpfenden, wandernden, arbeitenden Menschheit, und ihre »Substanz«, ihre ewig gleiche, ewig erneute, ihre im Wechsel dauernde, enthüllt uns ihre »einförmigen« Gesetze.

    1. Allmählich entsteht aus diesem ersten Stadium das zweite, namentlich dann, wenn der Bauer, durch tausend Mißerfolge gekirrt, sich in sein Schicksal ergeben, auf jeden Widerstand verzichtet hat. Dann beginnt es selbst dem wilden Hirten aufzudämmern, daß ein totgeschlagener Bauer nicht mehr pflügen, ein abgehackter Fruchtbaum nicht mehr tragen kann. Er läßt im eigenen Interesse den Bauern leben und den Baum stehen, wenn es möglich ist. Die reisige Expedition kommt nach wie vor, waffenstarrend, aber nicht mehr eigentlich in Erwartung von Krieg und gewaltsamer Aneignung. Sie brennt und mordet nur so viel, wie erforderlich ist, um den heilsamen Respekt zu erhalten oder vereinzelten Trotz zu brechen. Aber im allgemeinen, grundsätzlich, nach einem fest gewordenen Gewohnheitsrecht - der erste Keim alles staatlichen Rechtes! - nimmt der Hirt nur noch den Überfluß des Bauern. Das heißt, er läßt ihm Haus, Geräte und ausreichend Lebensmittel bis zur nächsten Ernte. Ein Vergleich: der Hirt im ersten Stadium ist der Bär, der den Bienenstock zerstört, indem er ihn ausraubt; im zweiten ist er der Imker, der ihm genug Honig läßt, um zu überwintern. Ein ungeheurer Schritt vorwärts zwischen erstem und zweitem Stadium! Wirtschaftlich und politisch ein ungeheurer Schritt! Denn zuerst war der Erwerb des Hirtenstammes rein okkupatorisch; schonungslos zerstörte der Genuß des Augenblickes die Reichtumsquelle der Zukunft; jetzt ist der Erwerb wirtschaftlich, denn alles Wirtschaften heißt weise haushalten, den Genuß des Augenblickes der Zukunft halber einschränken. Der Hirt hat gelernt, zu »kapitalisieren«. Ein ebenso gewaltiger Schritt politisch: der blutsfremde Mensch, bisher vogelfreie Beute, hat einen Wert erhalten, ist als Reichtumsquelle erkannt; das ist zwar der Anfang aller Knechtschaft, Unterdrückung und Ausbeutung, aber auch der Anfang zu einer über die Verwandtschaftsfamilie hinausgreifenden höheren Gesellschaftsbildung; und schon spann sich, wie wir sahen, zwischen Räubern und Beraubten der erste Faden einer Rechtsbeziehung über die Kluft fort, die bisher zwischen den Nichts-als- Todfeinden klaffte. Der Bauer erhält eine Art von Recht auf die Lebensnotdurft; es wird ein Unrecht, den nicht Widerstehenden zu töten oder ganz auszuplündern. Und besser als das! Feinere, zartere Fäden knüpfen sich zu einem noch sehr schwachen Netze menschlichere Beziehungen als sie der brutale Gewohnheitspakt der Teilung nach dem Muster der partitio leonina enthält. Da die Hirten nicht mehr im Kampfzorn rasend mit den Bauern zusammentreffen, so findet auch wohl einmal eine demütige Bitte Erfüllung, oder eine begründete Beschwerde Gehör. Der kategorische Imperativ der Billigkeit, »was du nicht willst, das man dir tu'«, dem auch der Hirt im Verkehr mit seinen eigenen Bluts- und Stammesgenossen streng gehorcht, beginnt zum erstenmal, ganz schüchtern noch und leise, auch für den Blutsfremden zu sprechen. Hier ist der Keim zu jenem grandiosen äußeren Verschmelzungsprozeß, der aus den kleinen Horden die Völker und Völkerbünde geschaffen hat und dereinst den Begriff der »Menschheit« mit Leben erfüllen wird; hier ebenso der Keim zu der inneren Vereinheitlichung der einst Zersplitterten, die vom Haß der βάρβαροι zur allumfassenden Menschenliebe des Christentums und des Buddhismus führte. Volkstum und Staat, Recht und höhere Wirtschaft, mit allen Entwicklungen und Verzweigungen, die sie schon getrieben haben und noch treiben werden, entstanden gemeinsam in jenem Moment unvergleichlicher weltgeschichtlicher Bedeutung, in dem zuerst der Sieger den Besiegten schonte, um ihn dauernd zu bewirtschaften. Die Wurzel alles Menschlichen taucht nun einmal in das dunkle Erdreich des Tierischen, Liebe und Kunst nicht minder wie Staat, Recht und Wirtschaft. Bald kommt ein anderes hinzu, um jene seelischen Beziehungen noch enger zu knüpfen. Es gibt in der Wüste außer dem jetzt in den Bienenvater umgewandelten Bären noch andere Petze, die auch nach Honig lüstern sind. Unser Hirtenstamm sperrt ihnen die Wildbahn, er schützt »seinen« Stock mit der Waffe. Die Bauern gewöhnen sich, die Hirten herbeizurufen, wenn ihnen eine Gefahr droht; schon erscheinen sie nicht mehr als die Räuber und Mörder, sondern als die Schützer und Retter. Man stelle sich den Jubel der Bauern vor, wenn die Rächerschaar die geraubten Weiber und Kinder samt den abgehauenen Köpfen oder abgezogenen Skalpen der Räuber ins Dorf zurückbringt. Was sich hier knüpft, sind keine Fäden mehr, das ist ein Band von gewaltiger Festigkeit und Zähigkeit. Hier ist die vornehmste Kraft der »Integration« gezeigt, die im weiteren Verlauf aus den beiden ursprünglich blutsfremden, oft genug sprach- und rassefremden ethnischen Gruppen zuletzt ein Volk mit einer Sprache und Sitte und einem Nationalgefühl schmieden wird: gemeinsames Leid und Not, gemeinsamer Sieg und Niederlage, gemeinsamer Jubel und Totenklage. Ein neues gewaltiges Gebiet hat sich erschlossen, auf dem Herren und Knechte gleichen Interessen dienen; das erzeugt einen Strom von Sympathie, von Zusammengehörigkeit. Jeder Teil ahnt, erkennt im anderen mehr und mehr den Menschen; das Gleiche der Anlage wird herausgefühlt, während vorher nur das Verschiedene in der äußeren Gestalt und Tracht, in der fremden Sprache und Religion zu Haß und Widerwillen aufreizte. Man lernt sich verständigen, erst im eigentlichen Sinne, durch die Sprache, dann auch seelisch; immer dichter wird das Netz der seelischen Zusammenhänge. In diesem zweiten Stadium der Staatsbildung ist alles Wesentliche bereits in der Anlage enthalten. Kein weiterer Schritt kann sich an Bedeutung mit demjenigen messen, der von der Bären- zur Imkerstufe führte. Wir können uns darum mit kurzen Andeutungen begnügen.

    2. Das dritte Stadium besteht darin, daß der »Überschuß« der Bauernschaften von ihnen selbst regelmäßig als »Tribut« in das Zeltlager der Hirten abgeliefert wird, eine Regelung, die augenscheinlich für beide Teile bedeutende Vorteile hat. Für die Bauern, weil die kleinen Unregelmäßigkeiten, die mit der bisherigen Form der Besteuerung verbunden waren: ein paar erschlagene Männer, vergewaltigte Frauen und niedergebrannte Gehöfte, nun ganz fortfallen; für die Hirten, weil sie, um sich ganz kaufmännisch auszudrücken, für dieses »Geschäft« keine »Spesen« und Arbeit mehr aufzuwenden haben und die freigewordene Zeit und Kraft auf »Erweiterung des Betriebes« verwenden, d.h. mit anderen Worten, neue Bauernschaften unterwerfen können. Diese Form des Tributs ist uns aus historischen Zeiten bereits sehr geläufig, Hunnen, Magyaren, Tataren, Türken zogen aus den europäischen Tributen ihre besten Einnahmen. Unter Umständen kann sich bereits der Charakter eines Tributes, den Unterworfene an ihre Herren zu bezahlen haben, hier mehr oder minder verwischen, und die Leistung nimmt den Anschein eines Schutzgeldes oder gar einer Subvention an. Man kennt die Sage von Attila, den der kaiserliche Schwachkopf in Byzanz als seinen Lehnsfürsten abschildern ließ, weil ihm der Tribut als Hilfsgeld erschien.

    3. Das vierte Stadium bedeutet wieder einen sehr wichtigen Schritt vorwärts, weil es die entscheidende Bedingung für das Zustandekommen des »Staates« in seiner uns geläufigen äußeren Form hinzubringt: die räumliche Vereinigung der beiden ethnischen Gruppen auf einem Gebiete. (Bekanntlich kann keine juristische Definition des Staates ohne den Begriff des Staatsgebietes auskommen.) Von jetzt an wandeln sich die ursprünglich internationalen Beziehungen beider Gruppen immer mehr in intranationale. […] Die Schutzpflicht gegen die »Bären« zwingt sie, mindestens ein Aufgebot junger Krieger in der Nähe des Stockes zu halten, und das ist gleichzeitig eine gute Vorsichtsmaßregel, um die Bienen von Aufruhrgelüsten oder einer etwaigen Neigung zurückzuhalten, einen anderen Bären als Bienenvater über sich zu setzen. Denn auch das ist nicht selten. […] Wo aber entweder das Land für Großviehzucht ungeeignet ist - wie z. B. Westeuropa fast überall - oder wo eine weniger unkriegerische Bevölkerung Erhebungsversuche erwarten läßt, da wird die Herrenbevölkerung mehr oder weniger seßhaft, sitzt, natürlich an festen oder strategisch wichtigen Punkten, in Zeltlagern oder Burgen oder Städten. Von hier aus beherrschen sie ihre »Untertanen«, um die sie sich im übrigen nicht weiter kümmern, als das Tributrecht es verlangt. Selbstverwaltung und Kultübung, Rechtsprechung und Wirtschaft ist den Unterworfenen völlig überlassen; ja, sogar ihre autochthone Verfassung, ihre lokalen Autoritäten bleiben unverändert. 

    4. Aber von diesem vierten führt die Logik der Dinge schnell zum fünften Stadium, das nun schon fast der volle Staat ist. Streitigkeiten entstehen zwischen benachbarten Dörfern oder Gauen, deren gewaltsamen Austrag die Herrengruppe nicht dulden kann, da dadurch die »Prästationsfähigkeit« der Bauern leiden müßte; sie wirft sich zum Schiedsrichter auf und erzwingt im Notfall ihren Spruch. Schließlich hat sie an dem »Hofe« jedes Dorfkönigs oder Gauhauptes ihren beamteten Vertreter, der die Macht ausübt, während dem alten Herrn der Schein der Macht bleibt. […]

    5. Die Notwendigkeit, die Unterworfenen in Raison und bei voller Leistungsfähigkeit zu erhalten, führt Schritt für Schritt vom fünften zum sechsten Stadium, nämlich zur Ausbildung des Staates in jedem Sinne, zur vollen Intranationalität und zur Entwicklung der »Nationalität«. Immer häufiger wird der Zwang, einzugreifen, zu schlichten, zu strafen, zu erzwingen; die Gewohnheit des Herrschens und die Gebräuche der Herrschaft bilden sich aus. Die beiden Gruppen, erst räumlich getrennt, dann auf einem Gebiete vereint, aber noch immer nur erst nebeneinandergelegt, dann durcheinandergeschüttelt, eine mechanische »Mischung« im Sinne der Chemie, werden mehr und mehr zu einer »chemischen Verbindung«. Sie durchdringen sich, mischen sich, verschmelzen in Brauch und Sitte, Sprache und Gottesdienst zu einer Einheit, und schon spannen sich auch Fäden der Blutsverwandtschaft von der Ober- zur Unterschicht. Denn überall wählt sich das Herrenvolk die schönsten Jungfrauen der Unterworfenen zu Kebsen, und ein Stamm von Bastarden wächst empor, bald der Herrenschicht eingeordnet, bald verworfen und dann kraft des in ihren Adern rollenden Herrenblutes die geborenen Führer der Beherrschten. Der primitive Staat ist fertig.




    […] Sprechen wir zuerst von der Integrierung! Das Netz seelischer Beziehungen, das wir bereits im zweiten Stadium sich knüpfen sahen, wird immer dichter und enger in dem Maße, wie die materielle Verschmelzung, die wir schilderten, vorwärtsschreitet. Die beiden Dialekte werden zu einer Sprache, oder die eine der beiden, oft ganz stammverschiedenen, Sprachen verschwindet, zuweilen die der Sieger (Langobarden), häufiger die der Besiegten. Die beiden Kulte verschmelzen zu einer Religion, in der der Stammgott der Sieger als Hauptgott angebetet wird, während die alten Götter bald zu seinen Dienern, bald zu seinen Gegnern: Dämonen oder Teufeln werden. Der äußerliche Typus gleicht sich aneinander an unter den Einflüssen gleichen Klimas und ähnlicher Lebenshaltung; wo eine starke Verschiedenheit der Typen bestand und sich erhält, füllen wenigstens die Bastarde die Kluft einigermaßen aus, und der Typus der Feinde jenseits der Grenzen wird allmählich von allen stärker als ethnischer Gegensatz, als »fremd« empfunden, als der noch bestehende Gegensatz der nunmehr vereinten Typen. Immer mehr lernen sich Herren und Knechte als »ihresgleichen« ansehen, wenigstens im Verhältnis zu den Fremden draußen. Zuletzt verschwindet die Erinnerung an die verschiedene Abstammung oft gänzlich; die Eroberer gelten als Söhne der alten Götter - sind es ja oft auch buchstäblich, da diese Götter zuweilen nichts anderes sind als die durch Apotheose vergotteten Seelen der Ahnen. Je schärfer sich im Zusammenprall der benachbarten »Staaten«, die ja viel aggressiver sind als vorher die benachbarten Blutsgemeinschaften, das Gefühl der Absonderung aller Insassen des staatlichen Friedenskreises von den auswärtigen Fremden ausprägt, um so stärker wird im Inneren das Gefühl der Zusammengehörigkeit; und um so mehr faßt der Geist der Brüderlichkeit, der Billigkeit hier Wurzel, der früher nur innerhalb der Horden herrschte und jetzt noch immer innerhalb [S. 50] der Adelsgenossenschaft herrscht. Das sind natürlich von oben nach unten ganz schwache Fäden; Billigkeit und Brüderlichkeit erhalten nur so viel Raum, wie das Recht auf das politische Mittel es erlaubt: aber so viel Raum erhalten sie! Und vor allem ist es der Rechtsschutz nach innen, der ein noch stärkeres Band seelischer Gemeinschaft webt als der Waffenschutz nach außen. Justitia fundamentum regnorum! Wenn die Junkerschaft als soziale Gruppe »von Rechts wegen« einen junkerlichen Totschläger oder Räuber hinrichtet, der die Grenze des Rechtes der Ausbeutung überschritt, dann dankt und jubelt der Untertan noch herzlicher als nach einer gewonnenen Schlacht. Das sind die Hauptlinien in der Entwicklung der psychischen Integration. Die Gemeininteressen an Rechtsordnung und Frieden erzeugen eine starke Gemeinempfindung, ein »Staatsbewußtsein«, wie man es nennen kann.

    Auf der anderen Seite vollzieht sich pari passu, wie in allem organischen Wachstum, eine ebenso kräftige psychische Differenzierung. Die Gruppeninteressen erzeugen starke Gruppenempfindungen; Ober- und Unterschicht entwickeln ihren Sonderinteressen entsprechend je ein »Gruppenbewußtsein«. Das Sonderinteresse der Herrengruppe besteht darin, das geltende von ihr auferlegte Recht des politischen Mittels aufrechtzuerhalten; sie ist »konservativ«. Das Interesse der beherrschten Gruppe geht im Gegenteil dahin, dieses Recht aufzuheben und durch ein neues Recht der Gleichheit aller Insassen des Staates zu ersetzen: sie ist »liberal« und revolutionär. […]Solange die Beziehungen der beiden Gruppen lediglich die internationalen zweier Grenzfeinde waren, bedurfte das politische Mittel keiner Rechtfertigung. Denn der Blutsfremde hat keinerlei Recht. Sobald aber die psychische Integration das Gemeingefühl des Staatsbewußtseins einigermaßen ausgebildet hat, sobald der hörige Knecht ein »Recht« erworben hat, und in dem Maße, wie das Bewußtsein des Gleichseins sich vertieft, bedarf das politische Mittel der Rechtfertigung, und in der Herrengruppe entsteht die Gruppentheorie des »Legitimismus«. Der Legitimismus rechtfertigt Herrschaft und Ausbeutung überall mit den gleichen anthropologischen und theologischen Gründen. Die Herrengruppe, die ja Mut und Kriegstüchtigkeit als die einzigen Tugenden des Mannes anerkennt, erklärt sich selbst, die Sieger - und von ihrem Standpunkte aus ganz mit Recht - als die tüchtigere, bessere »Rasse«, eine Anschauung, die sich verstärkt, je mehr die unterworfene Rasse bei harter Arbeit und schmaler Kost herabkommt. Und da der Stammesgott der Herrengruppe in der neuen, durch Verschmelzung entstandenen Staatsreligion zum Obergott geworden ist, so erklärt sie - wieder von ihrem Standpunkte ganz mit Recht - die Staatsordnung für gottgewollt, für »tabu«. Durch einfache logische Umkehrung erscheint ihr auf der anderen Seite die unterworfene Gruppe als solche schlechterer Rasse, als störrisch, tückisch, träg und feig und ganz und gar unfähig, sich selbst zu regieren und zu verteidigen; und jede Auflehnung gegen die Herrschaft muß ihr notwendig als Empörung gegen Gott selbst und sein Sittengesetz erscheinen. Darum steht die Herrengruppe überall in engster Verbindung mit der Priesterschaft, die sich, wenigstens in allen leitenden Stellungen, fast immer aus ihren Söhnen ergänzt und an ihren politischen Rechten und ökonomischen Privilegien ihren Anteil hat. […]

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