RECONQUISTA

  • 09-05-20 21:03 Alter: 4 Jahr/e

    Die weiblichen Haplogruppen

    Genetik Teil 4

     

    Nachdem in den vergangenen Ausgaben unserer Serie der Schwerpunkt auf der Betrachtung des Y-Chromosoms und damit der direkten Vererbung in der männlichen Linie lag, wollen wir uns diesmal mit den weiblichen Haplogruppen beschäftigen. Wenn man vor 20 oder 30 Jahren von Haplogruppen sprach, meinte man damit grundsätzlich immer die weibliche Variante, also die direkte Vererbung mitochondrialer DNS in der weiblichen Linie.

    Mitochondrien sind Organellen, kleine Funktionseinheiten der modernen Zelle – ursprünglich selbständige, bakterienähnliche Lebewesen, die zu einem sehr frühen Zeitpunkt der Evolutionsgeschichte integriert worden sind. Man nimmt an, daß sie „verschluckt“ wurden – statt sie zu „verdauen“, übernahmen sie eine eigenständige Funktion als Energieproduzenten. Bis zu 2000 dieser Organellen finden sich in jeder Zelle unseres Körpers. Da sie ursprünglich autark waren, verfügen sie immer noch über eine eigene DNS und vermehren sich selbständig.

    Etwa 1990 entdeckte man, daß ihr genetischer Code über die weibliche Linie vererbt wird, also immer ( inzwischen gibt es da Einschränkungen, dazu später mehr ) von der Mutter stammt. Zum ersten Mal erkannte man die Möglichkeit, direkte Abstammungslinien weit in die Vergangenheit hinein zu rekonstruieren. Von Zeit zu Zeit treten Mutationen in der mitochondrialen DNS (mtDNS) auf – das bedeutet, je geringer die Zahl der Generationen, vor denen der letzte gemeinsame Vorfahre zweier Personen gelebt hat, umso größer ist die Übereinstimmung der mitochondrialen DNS. Indem man die Abfolge der Mutationen in den richtigen zeitlichen Zusammenhang brachte, ließ sich ein weiblicher Stammbaum der gesamten Menschheit erstellen, der auf eine Urmutter „Eva“ zurückgeführt werden kann, die vor etwa 160.000 Jahren in Afrika gelebt haben soll. Bild 1 zeigt den europäischen Zweig dieses Stammbaums – die verwendeten Buchstaben des Alphabets sind unabhängig von der Nomenklatur männlicher Haplogruppen: so hat etwa die weibliche Haplogruppe „I“ nichts mit der gleichlautenden männlichen Haplogruppe zu tun.

    Frühe, altsteinzeitliche Funde gehörten oft alten Linien der mt-Haplogruppen N oder M an, die heute fast völlig aus Europa verschwunden sind. Die ältesten kontinuierlichen Linien gehören dagegen zur Haplogruppe „U“, die in der alten und mittleren Steinzeit dominierte und bis in die Gegenwart, insbesondere in Nordeuropa, eine wichtige Rolle spielt. Heute ist „H“ die zahlenmäßig stärkste Gruppe. Ihr Ursprung ist umstritten – entweder stammt sie aus Südeuropa, oder sie wurde durch orientalische Einwanderer vor 8.000 Jahren in den Kontinent gebracht. Der orientalische Ursprung weiterer europäischer Linien wie I, V, X, J oder T gilt dagegen als gesichert. Bild 2 zeigt die Verteilung der mt-Haplogruppen in Europa heute.

    Schon früh wurde versucht, die Wanderungsbewegungen der Vorzeit durch die Betrachtung der mt-Haplogruppen zu rekonstruieren. Dabei zeigte sich jedoch, daß die Möglichkeiten hier begrenzt sind. Schaut man sich die kontinentale Verteilung an, stellt man fest, daß europaweit nur geringe Unterschiede auftreten. In ganz Westeuropa sehen sich die Graphen sogar zum Verwechseln ähnlich. Daraus hat man geschlossen, daß in erster Linie die Männer mobil gewesen sind, während die Frauen dazu neigen, in ihrer Herkunftsregion zu bleiben. Zwar zwingen die Verhältnisse manchmal auch ganze Völker zur Wanderschaft – man denke an Klimaverschlechterungen oder Naturkatastrophen - in der Regel sind es aber nur die Männer, die sich auf den Weg machen und versuchen, an einem neuen Ort ein Territorium zu erobern oder auf andere Weise Fuß zu fassen. Deshalb wurde seit dem Beginn des neuen Jahrtausends damit begonnen, die neu erforschten, männlichen Haplogruppen ebenfalls in die Betrachtung einzubeziehen. Eine aktuelle Entwicklung ist die rechnergestützte Aufarbeitung und Berücksichtigung autosomaler Gendaten.

    Der direkte Einfluß der weiblichen Haplogruppe auf die Lebensbedingungen des einzelnen Individuums dürfte gering sein. Immerhin gibt es einige Krankheiten, die mit Fehlern in der mitochondrialen DNS in Verbindung gebracht werden. In jedem Fall wird ein Zusammenhang zum Wärmehaushalt des Körpers, also möglicherweise zum Kälteempfinden und zu der Fähigkeit, Temperaturschwankungen zu kompensieren, bestehen. Erst vor ein paar Monaten wurde entdeckt, daß mitochondriale DNS in sehr seltenen Ausnahmefällen auch über den Vater vererbt werden kann. Damit geht die Möglichkeit, direkte weibliche Linien über tausende von Jahren zuverlässig zurückzuverfolgen, verloren. Für die Praxis der Rekonstruktion frühzeitlicher Wanderungsbewegungen mit statistischen Methoden ändert sich wegen der großen Zahl betrachteter Proben dagegen wenig.

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